Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht haben ein Manifest für den Frieden verfasst. In diesem Artikel möchte ich diesen Text einmal Stück für Stück auseinander nehmen und interpretieren. Zunächst hier einmal der Text im Ganzen. Ich habe die Sätze des Textes durchnummeriert, um in der Analyse einfacher auf die einzelnen Stellen referenzieren zu können.
(1) Heute ist der 352. Kriegstag in der Ukraine. (2) Über 200.000 Soldaten und 50.000 Zivilisten wurden bisher getötet. (3) Frauen wurden vergewaltigt, Kinder verängstigt, ein ganzes Volk traumatisiert. (4) Wenn die Kämpfe so weitergehen, ist die Ukraine bald ein entvölkertes, zerstörtes Land. (5) Und auch viele Menschen in ganz Europa haben Angst vor einer Ausweitung des Krieges. (6) Sie fürchten um ihre und die Zukunft ihrer Kinder.
(7) Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität. (8) Aber was wäre jetzt solidarisch? (9) Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden? (10) Und was ist jetzt, ein Jahr danach, eigentlich das Ziel dieses Krieges? (11) Die deutsche Außenministerin sprach jüngst davon, dass „wir“ einen „Krieg gegen Russland“ führen. (12) Im Ernst?
(13) Präsident Selenskyj macht aus seinem Ziel kein Geheimnis. (14) Nach den zugesagten Panzern fordert er jetzt auch Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffe – um Russland auf ganzer Linie zu besiegen? (15) Noch versichert der deutsche Kanzler, er wolle weder Kampfjets noch „Bodentruppen“ senden. (16) Doch wie viele „rote Linien“ wurden in den letzten Monaten schon überschritten?
(17) Es ist zu befürchten, dass Putin spätestens bei einem Angriff auf die Krim zu einem maximalen Gegenschlag ausholt. (18) Geraten wir dann unaufhaltsam auf eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg? (19) Es wäre nicht der erste große Krieg, der so begonnen hat. (20) Aber es wäre vielleicht der letzte.
(21) Die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. (22) Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen. (23) Das sagt auch der höchste Militär der USA, General Milley. (24) Er spricht von einer Pattsituation, in der keine Seite militärisch siegen und der Krieg nur am Verhandlungstisch beendet werden kann. (25) Warum dann nicht jetzt? (26) Sofort!
(27) Verhandeln heißt nicht kapitulieren. (28) Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. (29) Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern. (30) Das meinen auch wir, meint auch die Hälfte der deutschen Bevölkerung. (31) Es ist Zeit, uns zuzuhören!
(32) Wir Bürgerinnen und Bürger Deutschlands können nicht direkt auf Amerika und Russland oder auf unsere europäischen Nachbarn einwirken. (33) Doch wir können und müssen unsere Regierung und den Kanzler in die Pflicht nehmen und ihn an seinen Schwur erinnern: „Schaden vom deutschen Volk wenden“.
(34) Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. (35) Jetzt! (36) Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen. (37) Jetzt! (38) Denn jeder verlorene Tag kostet bis zu 1.000 weitere Menschenleben – und bringt uns einem 3. Weltkrieg näher.
Bevor wir uns diesen Text näher anschauen, ist es wichtig, die Analysemethodik einmal zu beleuchten. Im ersten Schritt geht es natürlich um die Frage, welche Aussagen stecken in dem Text. Diese rein semantische Analyse ist dabei noch der einfache Teil. Spannender wird es bei der Interpretation des Subtextes, also dem, was mit dem Text eigentlich gesagt werden soll. Dieser Teil der Analyse ist deutlich schwieriger, weil er von Kontextwissen und Vorerfahrungen desjenigen abhängt, der die Interpretation vornimmt. Und zum Schluß muss auch noch beachtet werden, was der Text ausnimmt, welche Aussagen nicht getroffenen werden. Auch dies kann viel über die Gedankenwelt der Autoren aussagen und bei der Interpretation des Subtextes hilfreich sein.
Das Manifest für den Frieden beginnt in Satz 1 mit einer einfachen wahren Aussage. Der Hinweis auf den 352. Kriegstag spricht die Länge des Krieges an. 352 Tage Krieg sind ein langer Zeitraum der fortwährenden Gewalt. Gleich im zweiten Satz wird die Zahl der Toten auf Seiten der Soldaten und der Zivilisten in einer Tatsachenbehauptung beziffert. Der Satz suggeriert damit eine Genauigkeit, die in dieser Form nicht existiert. Beide Kriegsparteien machen aus ihren Verlusten ein Staatsgeheimnis, so dass nur vorsichtige Schätzungen über die wirklichen Verluste existieren. Beide Sätze zusammen liefern aber die Grundlage für das Manifest. Der Krieg dauert schon lange und es sind viel zu viele Menschen bereits gestorben.
Satz 3 spricht eine traurige Realität an, an der es sicher keine Zweifel gibt. Oder doch?
Frauen wurden vergewaltigt, Kinder verängstigt, ein ganzes Volk traumatisiert.
Die Wahrheit ist schlimmer. Es wurden nicht “einfach” nur Frauen vergewaltigt und Kinder verängstigt. Sexuelle Gewalt wird und wurde von russischen Soldaten systematisch gegen Frauen und Männer als Kriegstaktik angewendet. Hierzu gibt es ausreichende internationale Untersuchungen, die das belegen. Kinder wurden nicht nur verängstigt sondern sie wurden überall in der Ukraine auch getötet und insbesondere in den russisch besetzten Gebieten systematisch von ihren leiblichen Eltern getrennt, nach Russland gebracht und dort zwangsadoptiert. Auch hierüber liegen genügend glaubwürdige Berichte vor. Satz 3 ist zwar wahr, aber er kehrt das ganze – insbesondere durch den russischen Aggressor verursachte – weitergehende Leid unter den Tisch.
Mit Satz 4 ergeht sich der Text in einer Spekulation, die jeder Grundlage entbehrt. Zudem legt er schon hier die Grundlage für eine spätere Täter-Opfer-Umkehr: “Wenn die Kämpfe so weitergehen, ist die Ukraine bald ein entvölkertes, zerstörtes Land.” Erstens kann von einer Entvölkerung der Ukraine als Ganzes überhaupt nicht gesprochen werden. Auch entgegen der Erwartungen hinsichtlich der Winterbedingungen ist die große Fluchtwelle aus der Ukraine ausgeblieben. Die meisten Ukrainer scheinen in der Ukraine (zur Not als Binnenflüchtlinge) ausharren zu wollen. Zweitens wird in dem Satz von “den Kämpfen” gesprochen. Das ist wieder objektiv richtig, schließlich kämpfen Ukrainer und Russen gegeneinander. Im Subtext jedoch werden Ukrainer und Russen hinsichtlich der gewaltsamen Auseinandersetzung auf eine Stufe stellt, nämlich als zwei Parteien, die zur Verwirklichung ihrer jeweiligen Ziele miteinander kämpfen und dabei die Entvölkerung und Zerstörung der Ukraine bewirken.
Mit Satz 5 wird der Blick auf die Menschen in Europa gewendet, die Angst vor einer Eskalation und Ausweitung des Krieges hätten. Dieser Satz ist sicher richtig. Auch Balten und Polen haben Angst vor einer Eskalation und Ausweitung des Krieges. Aber eben anders als Deutsche, Franzosen oder Niederländer. Die Angst gerade der Osteuropäer und Balten vor einer Ausweitung des Krieges ist nicht durch zu viele sondern eher durch zu wenige Waffenlieferungen begründet. Die Angst vor dem unstillbaren imperialen Hunger Russlands ist größer als die Angst vor einer Eskalation durch schwere Waffen. Scheinbar blicken Schwarzer und Wagenknecht nur nach Westen, wenn sie von Europa sprechen.
Satz 6 lädt den Text weiter emotional auf, in dem die Angst um die Zukunft der Kinder thematisiert wird. Es stimmt, dass man heute Angst um die Zukunft der Kinder haben muss. Aber diese Angst haben Ukrainische Eltern auch. Und hier geht es um echte und nicht nur gefühlte Bedrohungen. Tag für Tag. Zudem ist der Krieg in der Ukraine nicht der einzige Grund, warum man um seine Kinder Angst haben müsste.
Satz 7 und 8 muss man zusammen betrachten: “(7) Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität. (8) Aber was wäre jetzt solidarisch?” Schon die Wortwahl lässt eine subtile Manipulation vermuten. Auf der einen Seite steht ein Staat als Akteur und auf der anderen Seite die brutal überfallene ukrainische Bevölkerung. Warum sprechen die Autorinnen hier nicht über den ukrainischen Staat? Gilt der Überfall Russlands tatsächlich nur der Zivilbevölkerung und nicht auch den staatlichen Institutionen der Ukraine, dem politischen System und der Kultur? Der Angriff Russlands ist ein Angriff auf den ukrainischen Staat. Die Differenzierung zwischen der Zivilbevölkerung und der ukrainischen Nation öffnet den Raum für den Keil, den die Autorinnen später noch zwischen die politische Führung und die Bürger des Landes zu schieben versuchen.
Mit der Frage was denn im Hinblick auf die ukrainische Bevölkerung solidarisch sei, wird eine Scheinfrage gestellt. Dazu ist es sinnvoll, sich über den Begriff Solidarität zu verständigen. Lt. Wikipedia bedeutet Solidarität:
Solidarität (von lateinisch solidus „gediegen, echt, fest“) oder solidarisch bezeichnet eine zumeist in einem ethisch-politischen Zusammenhang benannte Haltung der Verbundenheit mit – und Unterstützung von – Ideen, Aktivitäten und Zielen anderer. Sie drückt ferner den Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten oder gleichgestellten Individuen und Gruppen und den Einsatz für gemeinsame Werte aus […]
Habermas erklärte:
“Wer sich solidarisch verhält, nimmt im Vertrauen darauf, dass sich der andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten wird, im langfristigen Eigeninteresse Nachteile in Kauf.” [6]
Ausgehend von diesen Definitionen bedeutet also Solidarität mit dem ukrainischen Volk eine Haltung der Verbundenheit mit – und Unterstützung von – Ideen, Aktivitäten und Zielen desselben. Solidarität ist demnach kein Wunschkonzert des Solidarischen oder Ausfluss einer ethisch-moralischen Bewertung sondern gründet sich alleine auf den Wünschen und Zielen derer, mit denen man sich solidarisch erklären will. Insoweit muss eine Antwort auf die Frage in Satz 8 zunächst zu ergründen suchen, was die ukrainische Bevölkerung mehrheitlich will, um anschließend sagen zu können, in wieweit man sich damit solidarisch erklären kann.
Stattdessen erweckt die Frage in Satz 8 den Eindruck, es gäbe hier einen Diskursraum, in dem deutsche Intellektuelle ergründen könnten, was gut für die Ukraine wäre. Solidarität als intellektuelle Besserwisserei? Die Autorinnen sind in keiner Weise solidarisch mit der ukrainischen Bevölkerung, da sie sich offensichtlich mit den Werten, Wünschen und Zielen der Menschen nicht auseinandergesetzt haben, was nach der Definition aber eine Voraussetzung für solidarisches Handeln wäre.
Die folgenden Fragen in den Sätzen 9 und 10 setzen den rhetorischen Hebel am Sinn des Krieges an. Wie lange soll dieser denn noch geführt werden und was sind denn nach einem Jahr Krieg eigentlich die Kriegsziele? Dabei suggerieren die beiden Fragen Antworten, ohne diese explizit zu geben. Auch hier ist es eher der Subtext, der Antworten auf die suggestiven Fragen gibt. Der Krieg wird schon viel zu lange geführt, als dass man ihn noch weiterführen darf und eigentlich weiß keiner so recht, was mit dem Krieg eigentlich erreicht werden soll. Dafür weitere Menschen zu opfern, ist nicht legitim. Dabei ignoriert der Text, dass Kriegsziele auf beiden Seiten benannt worden sind und auch bis heute mehr oder minder konsequent verfolgt werden.
Satz 11 ist der immer wieder wiederholte Ausspruch von AM Baerbock, der hier weder vollständig noch richtig wiedergegeben wird. Ich will die Angemessenheit, Richtigkeit oder Sinnhaftigkeit jener Aussage nicht bewerten, aber sie in dieser Weise wiederzugeben, hat deutlich manipulativen Charakter. Dass dies in dem Text Methode hat, wird an späterer Stelle durch falsche Zitate und Behauptungen noch offensichtlich.
Satz 14 suggeriert, Präsident Selenskyj ginge es darum, Russland auf ganzer Linie zu besiegen. Umgangssprachlich bezeichnet der Ausdruck “auf ganzer Linie” nichts anderes als “völlig”, “vollkommen”, “absolut” oder “in jeder Hinsicht”. Dabei darf spekuliert werden, was ein “vollkommener”, ein “absoluter” Sieg über Russland im Sinne der Autorinnen bedeuten soll? Im Subtext dieses Ausdrucks findet sich eine unterschwellige Kritik an den Kriegszielen des ukrainischen Präsidenten wieder. Offensichtlich soll angedeutet werden, dass die Kriegsziele unangemessen weit gesteckt sind vor dem Hintergrund der Opfer, die dieser Krieg fordert.
Mit den Sätzen 15 und 16 wird die Angst davor geschürt, dass der Bundeskanzler auch Bodentruppen in die Ukraine senden könnte. Dabei wird nicht erwähnt, dass dies nicht alleine vom Bundeskanzler entschieden werden kann sondern dafür auch Parlamentsbeschlüsse benötigt würden. Die Bundeswehr ist und bleibt eine Parlamentsarmee.
Zusammengefasst zeichnet der Text bis hierhin das Bild einer leidenden ukrainischen Bevölkerung, deren Leid durch einen in seinen Kriegszielen zu weit greifenden und zu fordernden Präsidenten weiter verlängert wird und der mit seinen unangemessenen Forderungen nach Waffen den deutschen Kanzler immer weiter zum Überschreiten roter Linien drängt. Dabei wird das Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Volkes, die dort vorherrschende öffentliche Meinung sowie die hohe Motivation vieler Ukrainer zur Verteidigung ihrer Nation einfach ignoriert.
Die Sätze 17 bis 20 wiederholen das russische Narrativ vom Atomschlag, der ausgeführt werden müsste, wenn die Krim von der Ukraine erobert würde. Während man diese Gefahr grundsätzlich nicht ausschließen kann, ist es nicht das einzige Szenario. Eine reflektierte Diskussion müsste daher verschiedene Szenarien in Betracht ziehen und deren Konsequenzen durchdenken. Dies gilt im Übrigen auch im Hinblick auf andere Atommächte und die, die es werden wollen. An dieser Stelle schüren die Autorinnen Ängste, mit denen sie ihre Position untermauern wollen, ohne dass sie dafür nähere Begründungen liefern. So bleibt zumindest der Verdacht, dass damit der Text weiter emotional aufmunitioniert werden soll.
Die Argumentation in den Sätzen 21 bis 24 gründet sich auf falschen Behauptungen. Zunächst wird festgestellt, dass die Ukraine zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen könne. Aber sie könne gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen. Zunächst steht diese Behauptung auf einem schwachen Fundament. Die Geschichte zeigt, dass Atommächte schon des öfteren besiegt wurden, ohne dass dies in einem Atomkrieg mündete: Vietnam, Korea, Afghanistan (Russland), Afghanistan (USA). Warum jetzt ausgerechnet die Ukraine den Krieg nicht gewinnen können sollte, erschließt sich aus dem Text zunächst nicht. Stattdessen wird General Milley als Beleg für diese Aussage herangezogen: “Das sagt auch der höchste Militär der USA, General Milley.”
Ausweislich der Dokumentation (https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ukraine-russland-krieg-general-milley-usa-100.html) hat er diese Aussage in dieser Form nie getätigt. Er führte dagegen aus:
“Die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen militärischen Sieges – definiert als der Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschließlich der von ihnen beanspruchten Krim – ist militärisch gesehen in naher Zukunft nicht sehr hoch.”
Es bedarf wohl keiner besonderen sprachlichen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass zwischen der Aussage von General Milley und der Aussage, die Ukraine könne den Krieg nicht gewinnen ein Unterschied besteht. Während der Text suggeriert, dass die Ukraine keine Chance hätte, einen Krieg gegen Russland zu entscheiden und es damit auch keinen Sinn mache, weiterzukämpfen, ist der US-amerikanische General deutlich vorsichtiger in seiner Formulierung. Scheinbar haben die Autorinnen an solcherart Differenzierungen kein Interesse.
So schreibt das ZDF in seiner Meldung weiter:
“Wahrscheinlicher sei nach Ansicht von Milley eine politische Lösung. Russland liege “im Moment auf dem Rücken”, sagte der General. Die Ukraine müsse aus einer Position der Stärke heraus mit Russland Gespräche führen können. […] Unabhängig davon erklärten US-General Milley und Verteidigungsminister Austin, die USA würden der Ukraine bei der Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg weiterhin helfen – “so lange wie nötig.” General Milley sagte: “Die Ukraine wird weiter bestehen. Die Ukraine wird nicht nachgeben”. Weiter sagte er, dass die Ukraine frei sei, “und sie [die Menschen in der Ukraine] wollen frei bleiben.””
Während also die Autorinnen versuchen, General Milley als “Kronzeugen” für ihre Antikriegsposition zu missbrauchen (Satz 24 ist schlicht unwahr), beantwortet dieser in Wirklichkeit die Suggestivfrage in Satz 25 mit einer gegenteiligen Position: “Die Ukraine müsse aus einer Position der Stärke heraus mit Russland Gespräche führen können.” Es ist leicht zu verstehen, dass Stärke in diesem Zusammenhang militärische Stärke bedeutet. Diese ist aber nicht ohne Lieferung schwerer Waffen herzustellen bzw. aufrecht zu erhalten.
Die Sätze 27 bis 29 richten sich an die Ukraine mit ihren westlichen Verbündeten. Durch den Satz “Verhandeln heißt nicht kapitulieren” wird der westlichen Position entgegen getreten, dass ein Verzicht auf weitere Waffenlieferungen zu einer Kapitulation der Ukraine führen würde. Es bleibt offen, wie die Autorinnen zu dieser These kommen, die den bisherigen Erfahrungen aus dem Kriegsverlauf fundamental widerspricht. Bislang macht Russland keinen Eindruck, es könnte von seinen Kriegszielen abrücken.
Stattdessen weisen die Autorinnen in Satz 28 darauf hin, dass es darauf ankommt, dass beide Seiten zu Kompromissen bereit sind. Dieser Satz, der die “beiden Seiten” besonders betont, ist in diesem Kontext nur als versteckte Kritik an der ukrainischen Führung zu verstehen, die kompromisslos die Wiederherstellung der nationalen Souveränität anstrebt und dabei auch weitere hunderttausende Tote riskiert. Im Kern wird hier dem Opfer (Ukraine) die Legitimität seines Strebens abgesprochen.
Mit den Sätzen 30 und 31 versuchen die Autorinnen ihrem Ansinnen weitere Legitimität zu verschaffen, indem sie ohne weitere Beweise die Hälfte der deutschen Bevölkerung einfach hinter sich stellen. Es gibt zahlreiche Umfragen, in denen die Bürger zu verschiedenen Fragestellungen befragt wurden. Dabei zeigt sich eine durchaus große Spaltung der Bevölkerung bei der Bewertung der deutschen Rolle und der mit dem Krieg verbundenen Waffenlieferungen.
Mit dem Satz 32 wird angedeutet, dass sowohl den Autorinnen als auch der deutschen Bevölkerung nicht zugehört wird. Dass die öffentliche Meinung bei den Entscheidungen der Politik keine Rolle spielt. Anders ist der Satz nicht zu verstehen, wenn die Autorinnen insistieren, dass es eben jetzt an der Zeit ist, ihnen und der restlichen Hälfte der Bevölkerung endlich einmal zuzuhören. Dieses Argument nimmt Anleihe an Behauptungen, wie “man können nicht mehr alles sagen” oder “die Politik interessiere sich nicht mehr für ihre Bürger”. Jetzt ist es Zeit, auch mal die andere Position der deutschen Bürger zu hören, zu deren Sprachrohr sich die beiden Autorinnen aufgerufen fühlen.
Mit Satz 32 nehmen die Autorinnen in Anspruch, für alle Bürger und Bürgerinnen Deutschlands zu sprechen. “Wir Bürgerinnen und Bürger” suggeriert, dass die Argumente der Autorinnen von einer breiten Öffentlichkeit mitgetragen werden, die sich gegen die Politik des Bundeskanzlers wendet. Indem dieses kollektive “Wir” den Bundeskanzler an seinen Eid in Satz 33 erinnert, soll deutlich gemacht werden, dass die bisherige politische Linie einen Bruch dieses Eids bedeuten könnte und damit wider die Interessen des deutschen Volkes liefe.
Dabei lassen die Autorinnen offen, welche vitalen Interessen durch die Politik denn verletzt werden. Möglicherweise bedeuten gerade Panzer- und Waffenlieferungen die Verwirklichung veritabler Interessen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, verbunden mit einer sich langfristig auszahlenden Solidarität mit den osteuropäischen Staaten, vorneweg der angegriffenen Ukraine. Ich behaupte nicht, dass dies so ist, aber das von mir angegriffene Manifest macht hierzu überhaupt keine weiteren belastbaren Aussagen.
Zum Schluss sei noch gesagt, dass sich der gesamte Text nur ein einziges Mal zur Rolle Russlands äußert, indem er auf den brutalen Überfall auf die ukrainische Bevölkerung verweist. Ansonsten kommt Russland in diesem Text in seiner Rolle als Angreifer und Okkupator nicht vor. Die gesamte völkerrechtliche Situation dieses Krieges findet in der Beurteilung keinen Eingang.
Zusammenfassend versucht der Text eine emotionale Stimmung gegen Waffenlieferungen zu erzeugen, indem er falsche Behauptungen aufstellt, wesentliche Fakten weglässt und unzulässige Verallgemeinerungen vornimmt. Dieser Text trägt daher zu keiner konstruktiven Diskussion über die Risiken und Chancen der weiteren politischen Entscheidungen bei.